Wieder ein Herbst ~ ohne sie

 

 

 

22.10.2025

 

 

 

 

 

In ihrem schönsten Kleide

 

Stehn alle Bäume gelb und rot,

 

Sie sterben einen leichten Tod,

 

Sie wissen nichts von Leide.

 

Herbst, kühle mir das heiße Herz,

 

Daß es gelinder schlage

 

Und still durch goldene Tage Hinüberspiele winterwärts.“

 

 

 

Hermann Hesse

 

 

 

Wieder ein Herbst.

 

Ein Gold-Herbst. Heute wieder alles mit dem Rad erledigt, Sonne schien, sogar wärmend.

 

Herrlich durch das Laub zu fahren und später laut durchs Laub zu stieben mit den Stiefeln.

 

Wie ein Kind.

 

Leonie liebte das Bunt, die Formen, die unterschiedlichste Farbpracht.

 

Ob meine Söhne den Herbst lieben weiß ich nicht mal. Ich komme selten dazu mit ihnen zu sprechen und wenn, denke ich nicht daran, sie nach ihrer Vorliebe einer Jahreszeit zu fragen.

 

 

 

Bei uns ist alles voller bunter Blätter. Bei über 20 Bäumen, vielen Hecken, Sträuchern, Kräuter-Plätzen rund ums Haus, fallen Unmengen an Laub an. Klaus kümmert sich um die Baumpflege und fragt, ob wir einiges reduzieren und welche der Bäume. Da ist sofort ein dicker Stich in meiner Brust zu spüren. Bäume „reduzieren“ bedeutet im Klartext absägen, Bäume töten, sterben lassen …

Ich liebe Bäume. Doch ich kümmere mich nicht ums Laub, um die Äste, die geschnitten werden müssen, ums reduzieren. Ich halte mich raus, überlasse es jenen, die sich kümmern und segne dann mit Kräutern und Räucherwerk die Plätze, an denen gestorben wurde. Bete für die Baumgeistwesen, denn jede Pflanze hat ihre Hüter. Das wissen manche nicht. Doch ich weiß, dass es so ist.

 

 

 

Es ist eine bewusste, achtsame und intensive Zeit für mich.

 

Meine Mutter kam einen Tag vor ihrem 94 Geburtstag in die Geriatrie, dann in ein Pflegeheim. Keine leichte Entscheidung. Doch zu Hause in einer riesigen Wohnung im zweiten Stock, in der wir als Großfamilie mit 9 Personen lebten, ging gar nichts mehr. Und von sieben ihrer Kinder leben drei hier in der Nähe, alle anderen weit weg. Ich bin eine von jenen vor Ort und radel täglich ins Heim, sie zu besuchen, um Wäsche zu holen und zu bringen.

 

Es fällt mir leichter, als ich es mal angedacht hatte, mich so intensiv um diese Frau zu kümmern, durch die ich hier ins Leben kam.

 

Ich war nämlich eines der schwierigsten Kinder für meiner Eltern.

 

Denn ihre bewusst gewählte Lebensform dieser Großfamilie, die eine Vorzeigefunktion mit hohen Idealen darstellen sollte, wie z.B. einer gesellschaftlich angesehenen, gebildeten Schicht anzugehören, in der alle Kinder diesen Gehorsam verpflichtenden und römisch-katholisch geprägten Weg zu gehen hatten, zum höchsten Wert zählte.

 

Auf diesem Weg habe ich früh, doch nicht lautstark rebelliert.

 

Ich habe schmerzvolle, schwierige und - für unsere Sippe - unbegangene Wege eingeschlagen.

 

Das bedeutete über lange Zeit gedemütigt, bestraft und ausgegrenzt zu werden.

 

Nun, es sind Geschichten.

 

Geschichten, die jetzt keine Rolle mehr spielen, im Hinblick auf die Hilflosigkeit einer einsamen Frau, der keine Wahl bleibt, als sich dem zu stellen, was gerade ist.

 

Ich bin freundlich. Sie ist freundlich und dankbar.

 

Was will ich mehr!

 

Und obgleich ich selbst Oma bin und im Rentnalter, bin ich voller Pläne und Visionen.

 

In wenigen Tagen beginnt für mich eine zeitintensive Resourcen aktivierende Trauerbegleiter-Ausbildung in Alfter an der Alanus Hochschule, an der Leonie drei Jahre eine glückliche Studienzeit hatte.

 

Nach diesen 14 Monaten steht meine Reise nach Tibet an, um den Kailash zu umrunden, den heiligen Schnee-Berg. Das ist eine große und anspruchsvolle Tour, denn ich bin noch nie auf so einer Höhe von bis zu 5700 Metern gelaufen. Erst recht nicht auf steinigen, steilen, oft Eis überzogene Auf- und Abstiegen über lose, steinübersäte Geröllhalden und an messerscharfen Felsen entlang. Ich bin kein trainierter Mensch mit Kondition. In mir ist dennoch nicht die Frage, ob ich es mit 68 angehen soll oder nicht.

 

Diese Bilder vom Kailash tauchten in mir auf. Aus dem Nichts.

 

Natürlich dachte ich an Leonie und Simon, ihre Abenteuer, ihre Besteigungen, Hochalpin-Touren, ihr Klettern und Bouldern, Felsen mit bloßen Händen und Fingern zu erklimmen. Dass in mir diese Vision durch unzählige Bilder zu diesem Entschluss führten, diese Reise anzugehen, ist kein intellektueller Plan. Ich erstelle eine Wandcollage mit Unmengen an Fotos, die weiter wächst. Vom Kailash, seiner Umgebung, den Wegen der Kora, wie die rituelle Umrundung des Kailash genannt wird, den mystischen Seen und von Tibet, den Menschen dort.

 

Es ist mir wichtig geworden, diese Geschichte Tibets anzuschauen, die Tragödien, Gewalt, Zerstörung, Menschenrechtsverletzungen bis heute! Für all das hatte ich neben meiner großen Familie, Praxis, Zentrum etc., etc., gar keine Zeit.

 

 

 

Was für ein Leben das ist.

 

Wild, zart, wunderbar, beängstigend, freundlich, feindlich, voll und auch still…..

 

 

Ich lese oft in Mary Olivers Gedichtband: "Sag mir, was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben".

 

Hier schreibt sie auf Seite 297:

 

 

 

Ein paar Fragen, die du stellen könntest

 

 

 

Ist die Seele stabil, wie Eisen?

 

Oder ist sie zart und zerbrechlich, wie

 

die Flügel eines Falters im Schnabel der Eure?

 

Wer hat eine und wer hat keine?

 

Ich sehe mich weiter um.

 

Das Gesicht des Elchs ist ebenso traurig

 

wie das Gesicht von Jesus.

 

Der Schwan öffnet langsam die weißen Flügel.

 

Im Herbst trägt der Schwarzbär Laub in die Dunkelheit.

 

Eine Frage führt zur nächsten.

 

Hat sie eine Gestalt? Wie ein Eisberg?

 

Wie ein Kolibriauge?

 

Hat sie eine Lungenhöhle, wie die Schnecke und die Muschel?

 

Warum sollte ich eine haben und der Ameisenbär nicht,

 

der seine Kinder liebt?

 

Warum sollte ich eine haben und das Kamel nicht?

 

Wenn ich darüber nachdenke: Was ist mit den Ahornen?

 

Was ist mit der Schwertlilie?

 

Was ist mit all den Steinchen, die einsam im Mondlicht kauern?

 

Was ist mit Rosen, Zitronen, ihren glänzenden Blättern?

 

Was ist mit dem Gras?