„Wenn dir bewusst wird, dass du selbst Gastgeber bist,
für was auch immer in dir auftaucht,
dann bist du dir deiner eigenen Täterschaft
als Leidender, als Unwissender bewusst.
Und die Frage ist: Für wen oder was willst du
wirklich Gastgeber sein?“
OM C, Parkin
Diese Woche wurde ich in Gesprächen mit anderen Trauernden mehrfach mit dem Thema Wut konfrontiert. Im Grunde geht es in den Austausch-Gesprächen immer um unsere Gefühle.
Es ging nicht nur um die Wut auf das Geschehen des Todes selbst und das jetzige Leben, was als unerträgliche Last empfunden wird, sondern ebenso um Schuldzuweisungen, Hass und ausgesprochene Verwünschungen (speziell auf Personen, die bei Todesursachen beteiligt waren und Verantwortung tragen).
Tod hat oft mit gravierendsten, mächtigen Gefühlen zu tun.
Der Weg zum Frieden und einer neu erlebten Lebendigkeit wird nahezu immer erst einmal durch Gefühle blockiert.
Da gibt es unsere Primärgefühle, die der tatsächlichen, aktuellen Situation, dem Tod eines geliebten Menschen, entsprechen. Sie brechen wie Monsterwellen über uns als Trauernde herein, reißen mit aller Kraft und ohne jegliche Möglichkeit der Kontrolle oder Steuerung die fühlende Person mit und werden nach dem Schrecken der Zerstörung und des Verlustes auf natürliche Weise mit der Zeit weniger stark in uns wirken.
Sekundärgefühle entstehen durch Verdrängung von Primärgefühlen, wenn wir als Trauernde diese aus unterschiedlichen Gründen nicht fühlen wollen.
Bei Sekundärgefühlen verlieren wir uns als Trauernde manchmal im Ausagieren von Anklagen, Wut und Hass. Damit lässt sich dem Schmerz des Verlustes ausweichen, wie auch der Trauer, die unter der explosiven Energie von Wut nicht mehr gefühlt werden kann.
Wut ist leichter zu ertragen als Schmerz.
Unter diesen äußeren, selbst inszenierten Dramen liegt tiefster Schmerz und darunter wiederum endlose Liebe, die es über die Schmerzerfahrung ans Licht zu bringen gilt, um emotionale Heilung erfahren zu können.
Daneben gibt es die Kindergefühle, die traumatischen Erlebnissen aus der Kindheit entspringen, die zurück bis in die Zeit von Schwangerschaft und Geburt reichen.
Trauernde können durch den Tod einen urplötzlichen Einbruch in die Gefühlswelt der eigenen Kinderseele erleben, in der diese Erfahrungen gespeichert sind. Es ist eine Suche nach Erfüllung, Urvertrauen, die unerfüllt empfundene Sehnsucht nach einem Gehaltenwerden.
Es wird eine Regression erlebt in die Zeit der frühkindlichen Bedrohungen, Versagungen und die damit verbundenen Gefühlsspeicherungen. Alle Erfahrungen, alles Erlebte, ist als Matrizen, als somatische Marker, in unserem Körper gespeichert – ob vererbte oder erworbene emotionale Erfahrungen. Sie beeinflussen ab dem Zeitpunkt der Speicherung unser Verhalten, unsere Entwicklung und Gedankenmuster.
Beim Verlust eines geliebten Menschen werden diese kindlichen Urbedürfnisse und seelischen Verletzungen aktiviert. Unter Einwirkung von solch außergewöhnlichem Stress, verliert das Großhirn seine Fähigkeit, unser Verhalten zu steuern, und die instinktive Lebenskraft agiert nur noch aus den erlernten, gespeicherten Reaktionsmustern. Das emotionale Gehirn dominiert das Kognitive und um „überleben“ zu können, reagieren Reflexe und instinktive Verhaltensweisen.
Dann sind wir alle in vielschichtiger Weise mit systemischen Gefühlen durchdrungen. Das sind übertragene und verschobene Gefühle, die von Mitgliedern der eigenen Herkunftsfamilie und dem Ahnenfeld stammen. Der Einfluss des Familiensystems auf unser Leben kann sich auch in der Trauer deutlich zeigen. C.G. Jung hat bereits Jahrzehnte vor dem Entstehen der ersten systemischen Erkenntnisse beschrieben, wie stark er selbst das Gefühl habe, unter dem Einfluss von Dingen oder Fragen zu stehen, die von seinen Eltern oder Großeltern und den weiteren Ahnen unvollendet und unbeantwortet gelassen wurden.
In der Trauer zeigen sich systemische Gefühle oft in unterdrückten Gefühlen unserer Vorfahren. Diese Übertragungen geschehen unbewusst.
Zu der Komplexität, die sich mit all den Gefühlsbereichen in der Trauer zeigt, kommen vielfältige Sachzwänge, familiäre wie kulturelle und religiöse Zwänge.
Ein Großteil der Trauer ist ein Beharren, ein inneres Festhalten an der ganzen Vergangenheit oder Teilen von ihr.
„Loslassen bedeutet, dass uns nichts mehr hat“, schreibt Daniel Krämer.
Trauer, Verlust und den Schmerz zu fühlen, die Realität der Situation zu akzeptieren, über die geliebten Verstorbenen zu weinen, die Fülle der gemeinsamen Geschenke, die jetzt nur noch Erinnerungen sind. Mit all den akuten emotionalen als auch körperlichen Zusammenbrüchen und unmenschlich erscheinenden Herausforderungen in ein neues Leben hineinzuleben.
Wir können nichts an dem, was geschah oder in uns geschieht verändern, doch wir können wählen, wie wir auf alles navigieren und das Gleichgewicht zwischen Akzeptanz und Vertrauen in das Leben finden. Wir können aktiv in unserer Selbstverantwortung sein und zuversichtlich. Dankbar den bestehenden Moment zu leben und mit unserem Tun aktiv für eine bessere Zukunft beitragen zu wollen, mit weit ausgestreckten Antennen nach neuen Möglichkeiten und Chancen.
Es braucht die Kraft der inneren Freiheit und Zuversicht.
Trotz aller Schmerzen, aller Pein, ist es möglich, vom Vertrauen an ein gutes Leben erfüllt zu sein. Den gegebenen Fakten ins Gesicht zu sehen und sich ihrer bewusst zu sein, wie herausfordernd sie auch sein mögen.
Herausforderungen nicht auszublenden, sondern für sich selbst einen ganz eigenen Raum zu finden, wo gelernt werden kann, mit widrigen Schlägen des Schicksals umzugehen.
Dich von allem vollkommen berühren zu lassen, ist der Weg.
Darin liegt Einfachheit. Und auch Schmerz.
Der Schmerz des sterblichen Lebens, der Schmerz
Der Vergänglichkeit und der Schmerz des Todes.
Der Schmerz der Trennung,
der Schmerz des Falls aus dem Paradies,
der Schmerz der Sünde,
der Schmerz der Absonderung von dir selbst,
der Schmerz vorzugeben, dass du jemand bist, der du nicht bist,
der Schmerz, der darin besteht, die Königin der Liebe als
innere Geliebte zu haben und dennoch betteln zu gehen –
einfach nur Schmerz.
Der Schmerz selbst.
Fallen in den Schmerz.
Transzendenz. Ohne Distanz und ohne Nähe.
Die Erfahrung des Augenblicks, die Ausdehnung des
Augenblicks, Bewusstsein in und mit allem, was ist.
Stille
OM C. Parkin
aus: „Auge in Auge mit dir selbst“
Unser aller Leben handelt vom Reifen, Erwachsen werden, Integrieren durch die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen, die uns das Leben stellt.
Es gilt für uns Trauernde zu entdecken, dass Trauer Möglichkeiten in sich birgt, über frühere Einschränkungen und Lösungen hinaus zu wachsen.
Das Leben hat uns zwar bis zu diesem Punkt geformt und Spuren gelegt, doch um sich über einschränkende Einflüsse früherer Schmerzen und nun häufig als zu streng erlebte kulturelle Vorschriften über das „richtige“ Trauern zu befreien, ist ein Überschreiten gerade dieser Grenzen angesagt. Da diese Grenzüberschreitung ein natürlicher Teil der gesunden Entwicklung von Trauernden und wesentlich für das Wohlbefinden ist, ist sie ein notwendiger und die Not wendender Schritt.
Von wem will ich erwarten
die Einsicht in die Trauer
die Zustimmung zum Tod
das Suchen der Stille
das heilende Wort
den ersten Schritt zum Frieden
Außer von mir?