Mittwoch 14. Juli 2021 ~ Bouldern

 

Mittwoch, 14. Juli 2021

 

Heute früh las ich in Tenzin Priyadarshi`s Buch: „Dem Sinn des Lebens ist es egal, wo er dich findet“:

„Finde was deine Seele leuchten lässt“ und den Satz:

„Wir wollen immer alles genaustens erklären. Manchmal genügt es, einen Moment einfach anzunehmen“

 

 

 

Ein ganz besonderer Tag.

 

Jedesmal wenn ich etwas tue, was ich noch nie in meinem Leben gemacht habe, ist es etwas Besonderes, Einzigartiges.

 

Ich war bouldern.

 

Das Wort „boulder“ bedeutet im Englischen „Felsbrocken“ oder „Felsblock“. Es ist ein Klettern ohne Kletterutensilien, also ohne Sicherung mit Seilen, Gurten, Haken etc.

 

Bouldern war eine der Lieblingsbeschäftigungen von Leonie und Simon. Vor allem in freier Natur, an Felsen, Bergvorsprüngen, mit speziellen Matten, die sie oft über viele Kilometer weit auf dem Rücken durch die Landschaften an die Kletterstellen trugen. Doch auch an Klippen über Seen oder dem Meer boulderten sie.

 

„Was ist denn bouldern anderes als spielen mit seiner physischen Kreativität?“ schrieb Leonie an dem Morgen vor dem Aufbruch zu ihrer letzten Tour zu den Bernina Bergen. „Meine Freunde tollen durch die Felsen…..“, damit waren Simon und Stefan gemeint, während sie diese Zeilen schrieb, die wir im Bus fanden. Das Letzte was wir von ihr geschrieben haben.

 

Ich war in einer Boulder-Halle. Das ist klettern an mit Boulder-Griffen gestalteten Kletterwänden in Absprunghöhe, was bedeutet, dass ohne Verletzungsrisiko von der Wand zum Boden abgesprungen werden kann.

 

Ich hatte schon mehrfach mit einer Freundin darüber gesprochen, ob und wann sie mich mal mitnehmen würde. Ihre Söhne richteten diese faszinierende Boulder-Halle „Block Barock“ in Fulda ein. Es werden dort unablässig neue Routen geschraubt. Die Strecken für sehr geübte, begnadete Menschen, die sich immer neuen Herausforderungen stellen wollen, sind dann wie ein Magnet. Simon ist eigentlich nur zu Meisterschaften in Boulderhallen gewesen und hat mit seiner Kreativität, Kraft und seinem Mut hier und dort mehrfach Preise gewonnen. Die Letzte für ihn war der internationale Frankenjura-Bouldercup am 15. Juli 2017 in der Blockhelden Boulderhalle Erlangen, also 19 Tage vor ihrem Absturz.

 

Nun, an diesem Nachmittag war es für mich endlich soweit. Mit klopfendem Herzen und dem großen roten Karabiner-Haken mit Leonies beiden Boulder-Schuh-Paaren und der Chalktube darin (Chalk ist ein weißes, magnesiumhaltiges Pulver, das wie Kreide aussieht, was für die Hände genutzt wird, um bessere Griffigkeit zu bekommen). Ich konnte sie leider nicht zum bouldern tragen, weil sie sich zu eng anfühlten. Doch geübte Boulderer tragen ihre Spezialschuhe gewollt eng anliegend, damit der Kontakt zum Klettergrund durch die dünnen Schuhe an den Füßen und Zehen spürbar ist.

 

Schon Tage und vor allem Nächte vorher ging mir immer wieder dieses Vorhaben durch Kopf und Körper.

 

Gedanken, sehr vielschichtige Gedanken und Bilder. Viele Bilder tauchten nachts in meinen Träumen auf, ähnlich der Fotos von Leonie, die ausgezeichnete Fotos auf Boulder-Wochenenden mit Freunden machte. In meinen Träumen war alles viel intensiver, lebendiger, phantastischer in der Farbgewalt, den Gerüchen von Farnen, moderndem Holz, Moos und der Frische von kleinen Bachläufen und Wasserfällen.

 

Es waren auch Ängste in mir, wegen der vielen Emotionen, die mit diesem Vorhaben verknüpft sind. Meine Angst plötzlich Weinen zu müssen, ein überwältigt werden oder gar ein Zusammenbruch. Zu all den Ängsten meine Bedenken, ob ich das wirklich-wirklich will und was mich dazu veranlasst, das (in meinem Alter) zu tun oder tun zu wollen. Schneller Puls, Beklemmungen und wieder Gedanken und Bilder, innere Dialoge mit Leonie und Simon.

 

Aufregung wegen all dem Neuen, doch ebenso kindhafte Vorfreude, schöne Erregung.

 

Es war letztendlich überwältigend.

 

Die ganze Familie meiner Freundin boulderte zu unterschiedlichen Zeiten an diesem Nachmittag, es waren Menschen jeglichen Alters in den großen Hallen. Mütter mit Kindern, selbst Kleinkinder im Krabbelalter probierten sich hier und da an den unteren Griffen. Familien, Paare, Väter mit ihren Töchtern, Freunde, die sich dort trafen. Es gab Menschen, die lange an den Aufwärmecken trainierten und ich dachte mir, das ist hier so viel angenehmer als in einem Fitnessstudio. Niemand schaut auf Deine Figur, oder auf die Kleidung, niemand beäugt oder kritisiert irgendetwas oder irgendjemanden. Hier scheint jeder wie selbstverständlich willkommen zu sein, genau wie er oder sie ist. Ein Kommen und Gehen, ein Aufwärmen bevor man irgendwann an eine der Wände geht und sich eine Route nach Farben aussucht. Oft ein langes Beobachten, ein Mitfiebern und Staunen, wenn jemand eine für ihn anspruchsvolle oder neue Strecke probiert, immer ist ein authentisches Anteilnehmen, ein aufrichtiges Freuen zu spüren und zu sehen, wenn es geschafft wurde, manchmal nach vielen, vielen Anläufen, kniffelige Stellen zu meister. Es geht gar nicht darum „gut“ zu sein oder gar „besser“ als jemand anderes. Eher ist es dieses Erfahren wollen. Verknüpft mit innerer Aufmerksamkeit, ein Lauschen, ein Probieren, ein immer wieder mutiges Erforschen seiner Balance, der Kräfte von Armen, Fingern, Füßen und Zehen, um das Gleichgewicht auf einem wenige Zentimeter oder Millimeter breiten, abgerundeten Tritt, einer Vorrichtung in einer speziellen Farbe zu meistern.

 

Es gibt nach Farben eingeteilte Routen aus Griffen, Tritten oder geometrischen Blöcken, von „einfach“ bis richtig deftig schwierig, an denen die Boulder-Menschen weite Sprünge an ekstatisch-schräg-schiefen Wänden vollbringen, mit individueller Kreativität, ganz gezielt eingesetzter Kraft und Geschicklichkeit. Ich habe die meiste Zeit dort geschaut, gestaunt, beobachtet, musste mich ab und zu an mein Atmen erinnern, weil ich wegen der aufregenden Kletterkünste manchmal vergaß, regelmäßig und gut zu atmen. Mir wurden Strecken gezeigt, die Routen manchmal vorgeführt, es sah so einfach aus! Doch als ich es selbst probierte, scheiterte ich schon bei den ersten zwei bis drei Griffen oder Tritten, da jene, die dicht und einfach zu erreichen gewesen wären, eine andere Farbe hatten. Es gibt eine genau vorgeschriebene Vorgehensweise, die es einzuhalten gilt, zumindest beim Aufstieg. Bei manchen Vorschriften habe ich innerlich aufgemuckt, eine Nörgelstimme plapperte in mir, ein Schmollen, wieso und weshalb das denn so schwierig gestaltet wird, wenn es einfach gehen könnte.

 

Nun, es gibt die Routen, die durch die farbigen Blöcke gekennzeichnet sind und ihren physischen und psychischen Sinn ergeben. Dann die Erfahrungen, den Körper nah an der Wand zu halten, bestimmte Drehungen zu vollziehen, die Arme gestreckt zu lassen. Alles Details, die ich nicht mit jeder einzelnen Selbsterfahrung ausprobieren kann und somit Energie spare.

 

Es sind gewiss spezielle Menschen, die sich auf so etwas einlassen.

 

Ich sah so viele schöne, junge Menschen, die mich sofort an sie erinnerten – an Leonie und ihren Simon. Simon, der ohne Unterlass immer wieder seine Kräfte spielen ließ und ihm war keine Route zu schwierig, kein Felsen zu einschüchternd.

 

Als einer der Söhne meiner Freundin eine der neuen und schwierigen Routen sprang und mit höchster Wahrnehmungsgabe immer wieder startete und es letztendlich schaffte, musste ich nicht nur wegen seiner schönen, schwarzen Locken an Simon denken. Auch diese Faszination vor dem Unbekannten, der Herausforderung und diesem „Mut der Verzweiflung“ (das hatte Leonie mal unter eines der Boulder-Fotos geschrieben, an dem Simon an einer blanken Wand ziemlich weit oben hing). Wie er oft an Felswänden kraxselte, mit seinen Fingerkuppen einen Halt oder ein Weiterkommen suchte und irgendwie auch fand.

 

Es waren gefühlt unendlich viele Eindrücke.

 

Und ich war das erste Mal dort, das erste Mal ein Versuch so etwas zu tun, was ich noch nie probiert habe. Unsicherheit, Ängstlichkeiten, Respekt, Nicht-Wissen, Probieren, meine Kräfte, meine Schwächen zu erfahren, mich an Zentimetern des Weiterkommens zu erfreuen und über mich staunen zu können, wie so viel Kraft- und Konzentrationsaufwand zu einem Schub an freundvoller Energie führt, die meinen ganzen Körper durchströmt und sich in mir ein zufriedenes Zittern ausbreitet. Es gibt immer nur den jeweiligen Moment. Weder das was vorher war, noch das was danach sein könnte.

 

Es war unmäßig viel um alles zu verstehen. Auf keinen Fall mit dem Kopf. Und es ist für mich gewiss noch etwas anderes, mit Leonies Boulderschuh-Erinnerung, die seit dem Tag, als wir die Urnen in der Schweiz holten, bei dem auch eine Tüte mit den noch gefundenen oder am Körper getragenen Sachen dabei waren, in der Garage an einem großen Haken hängen. Zu jeder Station, jedem neuen Platz, den wir veränderten, habe ich sie mitgenommen, abgelegt. Wie eine Reliquie, eine Heiligkeit, die mir Halt, Kraft, Zuversicht und Beistand gab. Manchmal kam ich mir blöd, ab und an lächerlich vor, mein Kopf plapperte mal hier und da rein, wie doof das sei und wieso überhaupt. Und es kostete mich Überwindung, diese Schuhe mit rein zu meinem Abenteuer zu nehmen. Doch es war richtig und wichtig. Es war für mich eine energetische, imaginäre Familienstütze. Für mich war mit dem Boulderschuhe-Päckchen Leonie mit vor Ort, ganz praktisch und sichtbar. Es war wie selbstverständlich bzw. war das mehrfach aufheben, mitnehmen und ablegen meiner Leonie-Utensilien nichts, was irgendjemanden gestört hätte oder als Frage in den Raum gestellt hätte.

 

 

 

Das Miteinander, das konzentrierte bei jemandem sein, der seine Erfahrung an der Wand mit einer Route macht, ist ein Teil von dem, was empathisch im Hier & Jetzt zählt. Sich mit dem anderen freuen über einen neuen Schritt, ungewohnte Grifffolgen, eine geschaffte Strecke.

 

Es geht vor allem ums Erproben, Erforschen, um die Sinne alle wach zu küssen, um Erfahrung. Es geht in erster Linie nicht um Erfolg oder das Ziel gut und besser zu sein. Das kommt viel, viel später mal, bei den kniffeligen Routen, die wirklich viel Übung erfordern. Und selbst da ist es niemals der „Sieg“ etwas geschafft zu haben, was ein anderer noch nicht fertigbrachte. Alle freuen sich über die Kunst an den Strecken, ganz gleich wer und wie oft und lange sich gerade jemand erprobt.

 

Es ist dieses neugierige, unschuldige Schauen, Beobachten, Mitfiebern, wenn in einem Teil der Halle mit schwierigeren und komplizierten Routen, sich weibliche und männliche „Champions“ an den Wänden erproben. Wenn es jemand geschafft hat wird geklatscht. Es gibt kein Verlieren und keine Verlierer. Das mit anderen sein, dabei zu sein, war für mich unglaublich lehrreich und faszinierend. Die Menschen sind wie eine Familie miteinander, die einer freudvollen, herausfordernden Erfahrung nachgehen, mit einem immensen Enthusiasmus, mit dem Mut zu Schwitzen, sich zu „blamieren“, einfach alles da sein zu lassen was gerade ist.

 

Mit all den Eindrücken zu Hause meinen Hunger gespürt. Insgesamt war ich fünf Stunden unterwegs. Bouldern ist anstrengend. Es kostet Kraft, Energie, vor allem Konzentration. Die ganzen Körperwahrnehmungen, von den Zehen, über kleine und größere Muskelgruppen an Beinen, Armen, dem ganzen Körper, zu den Händen und einzelnen Fingern, die durch das Chalk erst mal weiß sind, doch nach dem Entlanghangeln an den rauen Griffen an bestimmten Stellen rot bleiben.

 

Ich habe mir etwas leckeres gebacken. Klaus war mit seinem Männerkreis wandern und freute sich über ein warmes Stück salzigen Kräuter-Kuchen aus dem Ofen. Er fragte wie es war und ich merkte sofort, dass ein ungeheuerlicher Schwall an Emotionen hochspülte. „Schön“. Er sagte „emotional“ und da quollen schon die Tränen über mich. „Anspruchsvoll“ konnte ich noch sagen, bevor ich einfach nur überflutet wurde und weinte, mich schämte und überwältigt war. Ich ging bald in mein Zimmer, spürte meine Erschöpfung, meine Traurigkeit, eine Überforderung mit all dem Erlebten. Ich konnte auch nichts mehr schreiben.

 

Nach dem Duschen saß ich lange im Dunklen.

 

Es kamen viele Tränen und viele Träume in meine dankbare Nacht.